Der Strom

Gerade mal zehn Minuten dauerte 1881 die Fahrt auf der 2,5 Kilometer langen Strecke vom heutigen Bahnhof Berlin-Lichterfelde Ost zur damaligen preußischen Hauptkadettenanstalt. Doch weder Pferde noch ein Dampfross sorgten für das zügige Vorwärtskommen, sondern ein Gleichstrommotor mit einer Leistung von 10 PS. Diese von Siemens entwickelte erste elektrische Straßenbahn der Welt nahm am 12. Mai 1881 den Betrieb auf. Im selben Jahr fand in Paris die erste Internationale Elektrizitätsausstellung statt und auch dort rollte eine elektrische Siemens-Straßenbahn.

Die erste elektrische Straßenbahn der Welt 1881 in Lichterfelde. (Foto: Siemens Historical Institute)

Werner von Siemens hatte 1866 das dynamoelektrische Prinzip entdeckt und sollte damit die Elektrotechnik revolutionieren. Schon zu jener Zeit hatte er die Vision, „Eisenbahnen auf eisernen Säulen durch die Straßen Berlins zu bauen und dieselben elektrisch zu betreiben“. Bereits 1879 stellte er auf der Gewerbeausstellung in Berlin die erste elektrifizierte Lokomotive vor.

Die erste elektrische Eisenbahn bei der Berliner Gewerbeausstellung am Lehrter Bahnhof. (Zeichnung: Hermann Lüders, 1879)

Sie avancierte dort sofort zu einem Publikumshit. Auf einer 300 Meter langen Strecke waren die drei von einem Motorwagen gezogenen Wägelchen unterwegs, auf denen je sechs Besucher seitlich Platz nehmen konnten. Der Fahrer saß rittlings auf der kleinen Lok. „Sie geht in der That über Erwartung gut“, schrieb Werner von Siemens damals an seinen Bruder Carl: „Es werden in einigen Stunden täglich gegen 1000 Personen à 20 Pfennig für wohlthätige Zwecke befördert. 20 bis 25 Personen mit jedem Zuge. Geschwindigkeit etwa Pferdebahn-Geschwindigkeit. Es lässt sich darauf in der That jetzt was bauen!" ( aus: „Aufs Gleis gesetzt“, https://new.siemens.com). Diese Eisenbahn erhielt ihren Strom über die Schienen wie auch wenig später die Lichterfelder Straßenbahn – für die Ingenieure auf Dauer eine ebenso wenig befriedigende Lösung wie oberirdische Schlitzrohrleitungen.

Drehstromlokomotive auf der Siemens-Versuchsstrecke in Lichterfelde im Jahr 1899. (Foto: Siemens Historical Institute)

Walter Reichel, der im Herbst 1889 bei Siemens als Konstrukteur anfing, entwickelte und testete noch im selben Jahr Bügelstromabnehmer, Vorläufer der Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Siemens-Schnelltriebwagen installierten Variante. Ende der 1890er Jahre konnte Siemens zwischen Groß-Lichterfelde und Zehlendorf eine 1,8 Kilometer lange Drehstrom-Versuchsstrecke aufbauen, um dort Tests mit bis zu 10 000 Volt vorzunehmen. Diese wurde im Mai 1900 von der Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen besucht und daraufhin zum Vorbild für die Ausstattung der für die Schnellfahrversuche ausgewählten Militärbahnstrecke.

Die mit dem elektrischen Fahrleitungssystem ausgestattete 23 Kilometer lange Strecke zwischen Marienfelde und Zossen. (Foto: Polytechnisches Journal, 1904)

Für den Bau der Fahrleitungen zwischen Marienfelde und Zossen war Siemens & Halske zuständig. Der Strom wurde eingespeist aus dem AEG-Kraftwerk Oberspree in Oberschöneweide, dafür wurde eine 13 Kilometer lange Starkstromleitung durch die AEG teils unterirdisch verlegt. Die Spannung des dreiphasigen Wechselstroms war variabel zwischen 10 000 und 20 000 Volt. Jedes der beiden Unternehmen baute einen eigenen Drehstrom-Schnelltriebwagen, die mit unterschiedlichen Stromabnehmern versehen wurden.

Stromabnehmer des AEG-Schnelltriebwagens. (Abbildung: Polytechnisches Journal, 1904)
Stromabnehmer des Siemens-Schnellbahnwagens und Strommast an der Versuchsstrecke. (Foto: Polytechnisches Journal, 1904)

Schon vor Beginn der am 8. Oktober 1901 startenden Versuchsfahrten war klar, dass der Oberbau der Strecke gesondert ertüchtigt werden müsste, um tatsächlich mit den avisierten Geschwindigkeiten von rund 200 km/h fahren zu können. Im Frühjahr 1903 dann wurde auf Geheiß des Eisenbahnministers durch die Eisenbahn-Brigade der Oberbau aufwendig mit 12 Meter langen schwereren Schienen, zusätzlichen Schwellen und Basaltschotter ausgestattet. Zu diesem Oberbau gehörten auch so genannte Zwangs- beziehungsweise Leitschienen, die leicht demontierbar waren.

Querschnitt des Oberbaus: Neben der eigentlichen Fahrschiene (links) wurde aus gebrauchten Schienen eine waagerecht liegende so genannte „Zwangsschiene“ angebracht. (Abbildung: Glasers Annalen, 1935)

Diese wurden auf 17 der 23 Kilometer angebracht und sollten Entgleisungen entgegenwirken. Bei den unterschiedlichen Versuchsreihen wurde mit verschiedenen Stromstärken experimentiert. Zu den Sicherheitsvorkehrungen bei den Testfahrten gehörte, dass bei geplanten Geschwindigkeiten über 100 km/h alle Übergänge auf der Strecke zusätzlich von Schrankenwärtern abgesichert und die Stationswärter zwischen Marienfelde und Zossen vorab gesondert telegraphisch informiert wurden. Generell galt, dass die Fahrleitungen nur während der Versuchsfahrten unter Spannung gesetzt werden durften. Die Bahnbediensteten erhielten außerdem eine „Anleitung zur ersten Hilfeleistung bei Unfällen in elektrischen Betrieben“. Wenn die Strecke nicht durch die Militäreisenbahner genutzt wurde, konnten die Testfahrten stattfinden. Üblicherweise gab es vormittags eine dreistündige Betriebspause, die dann für die Versuche genutzt wurde. Bereits im November 1901 wurden erstmals 160 km/h auf der Strecke erreicht.

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