Die Trasse

Diese Sensation wurde weltweit registriert: Am 28. Oktober 1903 erreichte ein Schnellbahnwagen der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft AEG eine Geschwindigkeit von 210,2 Stundenkilometern auf der Strecke der Königlichen Militäreisenbahn zwischen Marienfelde und Zossen. Absoluter Rekord.

Der AEG-Schnelltriebwagen am Bahnhof Dahlewitz. (Foto: Siemens Historical Institute)

Es sollte immerhin acht Jahre dauern, bis der Blitzen-Benz als Rennwagen diese Leistung toppte und sogar bis 1931, als mit dem Schienenzeppelin ein anderes Eisenbahnfahrzeug den einst auf den Schienen der Militärbahn aufgestellten Geschwindigkeitsweltrekord brechen konnte.

Siemens-Schnelltriebwagen unterwegs Richtung Marienfelde. (Foto: Siemens Historical Institute)

Nicht nur das erreichte Tempo selbst war höchst bemerkenswert, sondern auch, wie zügig und strukturiert diese Schnellfahrversuche geplant und realisiert worden waren und welche Technik dafür eingesetzt wurde. Hinter den Tests stand die Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen St.e.S. und damit maßgeblich die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG) und die Siemens & Halske AG, die auch die Stromeinleitung und den Fahrleitungsbau verantworteten. Beide Konzerne hatten eigens Wagen für die Tests entwickelt.

Die Schnelltriebwagen von AEG (links) und Siemens & Halske. (Foto: Siemens Historical Institute)

Für Visionäre wie den AEG-Gründer Emil Rathenau war schon Ende des 19. Jahrhunderts vorstellbar, in nur 90 Minuten per Zug von Berlin nach Hamburg zu reisen. Heute ist das Realität, damals jedoch zuckelten hierzulande Dampfzüge mit höchstens 90 Stundenkilometern über Land. 891 Millionen Passagiere und 366 Millionen Tonnen Güter wurde 1902 auf dem gut 52 000 Kilometer langen Bahnstreckennetz in Deutschland befördert.

Trasse der Schnellfahrversuche der Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen. (Foto: Siemens Historical Institute)

Das für die Tests ausgewählte Teilstück der Militärbahnstrecke war 23 Kilometer lang und führte nahezu gerade und ohne größere Niveauunterschiede von Marienfelde über Mahlow, Dahlewitz und Rangsdorf nach Zossen. Insbesondere nach Dahlewitz pilgerten Neugierige zu den auch international in der Presse begleiteten Testfahrten, denn hier erreichten die Wagen ihre höchsten Geschwindigkeiten.

Zuschauer erleben in Dahlewitz die Durchfahrt des Schnellbahnwagens. (Foto: Siemens Historical Institute)

Siemens-Ingenieur Walter Reichel beschrieb in der Illustrierten „Die Woche“ anschaulich die Spannung und Aufregung derjenigen, die dem ersten großen Rekord der St.eS. am 6. Oktober 1903 beiwohnten, als der Siemens-Wagen erstmals die 200-km/h-Marke knackte: „Wenn in diesem Augenblick die 4000-pferdige Maschine des Kraftwerks der Oberspree uns nicht auf die Beine hilft, können wir das heißersehnte Ziel nicht erreichen; aber die braven Ingenieure und Betriebsleiter dieses Kraftwerks lassen uns nicht im Stich und der Zeiger unseres Geschwindigkeitsmessers erreicht in der Nähe von Rangsdorf die Zahl 200, sie um ein weniges noch überschreitend.“ Kaum in Zossen, nach nur achtminütiger von „lautem Hurra und Hütchenschwenken“ begleiteter Fahrt, angekommen, wurde dem Kaiser dieser Erfolg telegraphiert.

Die Woche, 17. Oktober 1903 (Auszug)

Paul Denninghoff, Geschäftsführer der St.e.S., erinnerte sich Jahrzehnte später: „Wenn man bedenkt, daß die erzielten Geschwindigkeiten mehr als doppelt so groß als die damaligen höchsten Schnellzuggeschwindigkeiten waren, so braucht man sich nicht zu wundern, daß bei Fahrgästen, die zum erstenmal an einer solchen Versuchsfahrt mit einer Geschwindigkeit von über 50 m in der Sekunde teilnahmen, vorher eine gewisse Besorgnis auftrat, ob die hohe Geschwindigkeit nicht etwa nachteilige Folgen für die Gesundheit haben oder etwa ein Mißbehagen hervorrufen würden. Im Gegenteil – die Teilnehmer fühlten sich in gehobener Stimmung, wenn ein in gleicher Richtung fahrender Schnellzug der dicht neben der Militäreisenbahn liegenden Dresdner Bahn so schnell überholt wurde, daß es den Eindruck machte, als ob der Schnellzug in entgegengesetzter Richtung führe.“ (aus: Glasers Annalen, 15.10.1935, S. 114)

Im Siemens-Wagen: Hauptmann Lindow, Reichel, Lochner, Major Friedrich, Denninghoff (v.l.). (Foto: Siemens Historical Institute)
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